Ja bitte, aber richtig: Prävention und Sexalpädagogik für Mädchen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben

Barbara Kavemann, Cornelia Helfferich, Bianca Nagel
in: Betrifft Mädchen Heft 4/2017, S. 163-169

Im Fokus dieses Beitrags stehen junge Frauen, die, verglichen mit vielen anderen jungen Frauen, unter ungünstigeren Bedingungen aufgewachsen sind: Zum einen haben sie in ihrer Kindheit oder frühen Jugend sexuellen Missbrauch erlebt, zum anderen leben sie in einer Wohngruppe der stationären Jugendhilfe. Es werden Ergebnisse aus der Studie „PRÄVIK“ vorgestellt, die zeigt, dass sie ein hohes Risiko haben, erneut sexualisierte Gewalt zu erleben, und dass es dringend erforderlich ist, ein passendes sexualpädagogisches Angebot in den Einrichtungen, in denen sie leben, zu verankern, um erneute schlechte Erfahrungen zumindest unwahrscheinlicher zu machen.

Die Studie geht den Entwicklungen und Mechanismen nach, die zu dieser hohen Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung von Gewalterfahrungen führen, und versucht zu verstehen, inwiefern die Bewältigung von und das Leben mit diesen Gewalterfahrungen die Fähigkeit untergraben kann, sich selbst zu schützen. Einige der Ergebnisse sollen hier berichtet werden. Am Ende wird diskutiert, inwieweit die Ergebnisse dieser Studie auch für die pädagogische Arbeit mit Mädchen, die unter günstigeren Bedingungen aufgewachsen sind, nützlich sein können. Die Frage,

  • wie man Mädchen schützen kann, die sich immer wieder in Gefahr begeben,
  • ohne ihre Freiräume zu beschneiden, die sie für ihre sexuelle Entwicklung brauchen,
  • und ohne ihnen sexuelle Zurückhaltung als Schutz zu empfehlen,
  • und wie man ihnen produktivere Bewältigungsmöglichkeiten von negativen sexuellen Erfahrungen vermitteln kann,

ist schließlich von grundlegender Bedeutung für die Arbeit mit jugendlichen Mädchen über die spezielle Zielgruppe hinaus. Die Studie „Prävention von Re-Viktimisierung bei sexuell missbrauchten Jugendlichen in Fremdunterbringung“ („PRÄVIK“) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und 2014 bis 2017 in Kooperation des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts, Freiburg (SoFFI F.) und des Deutschen Jugendinstituts, München (DJI) durchgeführt. Zu einem ersten Befragungszeitpunkt wurden 42 Mädchen und junge Frauen der Zielgruppe im Alter von 14 bis 19 Jahren befragt. Im Schnitt 12 Monate später konnten 26 Teilnehmerinnen erneut erreicht werden. Zu beiden Zeitpunkten kamen qualitative Interviews mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und standardisierte Verfahren zum Einsatz. Zwischen den beiden Befragungszeitpunkten wurde ein sexualpädagogischer Workshop für interessierte Teilnehmerinnen der Studie sowie eine Fortbildung für kooperierende Fachkräfte angeboten. Das Konzept des Workshops ist auf der Homepage von SoFFI F. herunterzuladen.

Warum wiederholen sich Erfahrungen sexualisierter Gewalt?

PRÄVIK konnte einige in der internationalen Forschung bereits gut etablierte Erkenntnisse bestätigen, die in Deutschland nur spärlich erhoben wurden. Drei von vier der jugendlichen Mädchen, die zu den beiden Befragungszeitpunkten einen Fragebogen ausgefüllt hatten, waren in dem zwischen den Befragungen liegenden Zeitraum von ca. einem Jahr erneut Opfer sexualisierter Gewalt geworden („Re-Viktimisierung“). Sechs davon erlebten sexualisierte Gewalt mit und sechs ohne Penetration. Allgemein wird davon ausgegangen, dass etwa die Hälfte derjenigen, die als Kind sexuellen Missbrauch erfahren haben, später erneut sexualisierte Gewalt erlebt. Dies entspricht einer Erhöhung des Risikos einer Re- Viktimisierung gegenüber Personen, die keinen sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit erfahren haben, um das Zwei- bis Dreifache (Pittenger, Huit & Hansen 2016).

In unserer Studie konnten wir ebenfalls das Forschungsergebnis bestätigen, dass die sexualisierte Gewalt häufig im Kontext der Gleichaltrigen und in den sexuellen Beziehungen stattfand. In den Interviews wurde von ungewollter Sexualität berichtet, die hingenommen wurde, um den Freund nicht zu verlieren, aber auch von Misshandlungen und sexuellem Ausnutzen.
Die Studie PRÄVIK zeigt weiterhin eindrücklich, dass es nicht „den“ Missbrauch gibt und dass oft in einer zu stark vereinheitlichenden Weise darüber gesprochen wird. Die Formen des berichteten sexuellen Missbrauchs unterscheiden sich ebenso wie das Alter bei Beginn, die Dauer (einmalige Episode, Chronifizierung über Jahre hinweg) oder die Täterschaft.
Auch in dem Ausmaß der Folgen unterscheiden sich die befragten Mädchen stark, wie die standardisiert erhobenen Daten eindrücklich belegen. Es gibt einen nachvollziehbaren, aber keineswegs eindeutigen Zusammenhang zwischen der Schwere des Missbrauchs und der Schwere der Folgen. Doch kann die Ausprägung der Folgen nicht allein auf die Merkmale des Missbrauchs zurückgeführt werden. Entscheidend für die Folgen ist auch die Einbettung des Missbrauchs in einen (familialen) Kontext von weiteren Kindeswohlgefährdungen, darunter körperliche und/oder emotionale Misshandlung, Vernachlässigung und miterlebte Partnerschaftsgewalt sowie weitere soziale Stigmatisierungen und Ausgrenzungen (Helfferich et al. 2017 im Druck). Auf die Schwere der Folgen nimmt auch Einfluss, ob die Reaktionen des sozialen Umfeldes auf ein Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs unterstützend oder beschuldigend ausfielen („victim blaming“).
Entsprechend sahen wir in unserer Stichprobe der 42 Mädchen sowohl solche, die wenig von dem sexuellen Missbrauch beeinträchtigt waren, die sich selbst in ihren sexuellen Kontakten schützen konnten und die auch dann, wenn sie z.B. zwischen den beiden Befragungszeitpunkten sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, vergleichsweise gut damit umgehen konnten. Auf der anderen Seite des Spektrums fanden sich Mädchen, bei denen der Missbrauch in der Kindheit mit anderen Gewalt- und Gefährdungserfahrungen einherging, die keine Unterstützung erhielten und in deren Lebenslauf sich schon vor dem Zeitpunkt der ersten Befragung sexualisierte Gewalt wiederholt hatte („persistierende Verläufe“). Es gab also Verläufe der Wiederholung positiver Erfahrungen, aber auch einen Kreislauf von erneuten negativen Erfahrungen. Wieder anderen Mädchen gelang es, aus einer Spirale negativer Erfahrungen „herauszuwachsen“ (ebenda).
Um die Mechanismen zu verstehen, die einer Wiederholung von Gewalterfahrungen zugrunde liegen, wurde die Entwicklung der Mädchen in mehreren Dimensionen rekonstruiert: Die Dimension Sexualität umfasst die Entwicklung des sexuellen Verhaltens und die Herausbildung von „Konzepten sexueller Integrität“. Unter sexueller Integrität verstehen wir die Summe aller Vorstellungen, die die Mädchen zu Sexualität als einem abgegrenzten, intimen Bereich haben, sowie zur Qualität der Abgrenzungen und der Fähigkeit, diesen Bereich zu schützen. Weitere Dimensionen sind die Entwicklung der sozialen Integration und der Einbettung in ein sicheres Umfeld sowie die Entwicklung der Fähigkeit, sich auf Nähe einzulassen und Vertrauensbeziehungen herzustellen oder zu haben.
Im Jugendalter kann spürbar werden, dass kindliche Anpassungsleistungen an das Trauma nicht dauerhaft Erfolg haben und frühe Bewältigungsstrategien können sich als destruktiv erweisen. Wenn sich keine Erfahrungen machen lassen, die dem Gewalterleben entgegenstehen, die beschädigte Wahrnehmung der Welt korrigieren und Geborgenheit vermitteln, dann verschlechtert sich die Verfassung Betroffener in der Adoleszenz mit ihren körperlichen Umbrüchen und den Herausforderungen an Weiterentwicklung oft dramatisch. Gefährdet sind insbesondere Jugendliche, die bereits in einer Situation angekommen sind, in denen ihnen viel Ablehnung und Ausgrenzung entgegengebracht wurde, die erste Suizidversuche und Alkoholabstürze und Aufenthalte in der Jugendpsychiatrie hinter sich haben und die Erwachsenen und dem System der Jugendhilfe zum Teil mit Misstrauen begegnen.

Reviktimisierung und Konzepte sexueller Entwicklung

Jugendhilfe ist gefordert, den Jugendlichen einen sicheren Ort zu schaffen. Vor allem die Etablierung von traumapädagogischen Kompetenzen (Schmid 2008) in der stationären Jugendhilfe kann hier der Weg sein und stellt ein wichtiges Ziel der kommenden Jahre dar. Teil des sicheren Ortes ist ein emanzipatives sexualpädagogisches Angebot, das traumatische Sexualisierung in all ihren Formen als Folge von sexualisierter Gewalt ernst nimmt. In der Studie PRÄVIK wurden idealtypisch vier – nicht trennscharfe – Konzepte sexueller Entwicklung differenziert:3

(1) „Kein Konzept sexueller Integrität“: Im Interview beschreiben Mädchen keinen Begriff von der Berechtigung, über den eigenen Körper selbst verfügen zu dürfen, und kein klares Konzept von Intimität. Sexuelle Übergriffe werden nicht als Gewalt definiert, zwischen Verliebtsein und Ausbeutung kann nicht unterschieden werden und Schmerzen beim Sex werden normalisiert. Eigene Wünsche und Bedürfnisse sind wenig Thema. Biografisch lässt sich dies in Verbindung bringen mit einer Vorgeschichte mit schwerem sexuellen Missbrauch bzw. vielfältigem Gewalterleben. Für die Prävention von Re-Viktimisierungen ist erforderlich, dass diese Jugendlichen ein Verständnis der Bedeutung von Intimität entwickeln, verstehen, wie Gewalt sich von Liebe unterscheidet und sich Strategien für ein Vermeiden von Gewalt und Ausbeutung in Beziehungen erarbeiten.
„Beim Sex, da hat‘s schon geschmerzt, aber ich meine, das gehört dazu.“ (17Jährige)
„Ich kann nicht richtig unterscheiden zwischen Liebe oder Ausnutzen. Ich denke, das eine geht nicht ohne das andere, um geliebt zu werden, muss man halt bestimmte Dinge tun.“ (18Jährige)

(2) „Ineffektives Konzept von sexueller Integrität“: Es existiert zwar ein Konzept von sexueller Integrität und von Grenzen, es wird jedoch in intimen Beziehungen als nicht durchsetzbar erlebt. Asymmetrische Machtbeziehungen werden akzeptiert und es besteht die Vorstellung, dass eine Frau den Mann befriedigen muss, um ihn zu halten. Trotz der Grenzverletzungen und Übergriffe erscheint eine Trennung nicht möglich. Biografisch dominieren Erfahrungen von Abwertung und Erniedrigung von Frauen. In der Prävention geht es hier um Unterstützung beim Erkennen, Aushandeln und Durchsetzen eigener Bedürfnisse in Beziehungen. Es geht darum, angemessene Gefühle von Selbstwert zu entwickeln und Weiblichkeit schätzen zu lernen.
„Ich versuch‘s immer mit Reden und wenn das nicht hilft, ja dann nehm ich‘s meistens so hin.“ (16Jährige)
„Mir gefällt‘s nicht mehr, weil da keine Liebe drin ist. Ich denk mir dann nur: hoffentlich hat der Typ seinen scheiss Orgasmus und fertig.“ (16Jährige)

(3) „Angst und ein starres Konzept sexueller Integrität“: Kennzeichnend sind eine starre und defensive Abgrenzung von allem, was mit Sexualität zu tun haben könnte und Berührungsängste. Sexuelle Aktivitäten können eine Erinnerung an den Missbrauch

wachrufen, die unerträglich ist. Biografisch lässt sich dies in Bezug setzen zu Zwang und Gewalt beim sexuellen Missbrauch und vielfältigem Gewalterleben, aber auch anderen Quellen von Angst in der Kindheit. Präventionsbotschaft ist hier das Lernen, Sexualität nicht nur als bedrohlich zu sehen und einen Umgang mit bzw. Bewältigungsstrategien für die Angst zu erwerben. Die Botschaft darf nicht sein, dass zum (heterosexuellen) Sex gedrängt wird.
„Ich hab versucht aber ich konnt‘ das nicht, nicht mal Anfassen oder so, nix, ich hab‘s einfach gehasst.“ (17Jährige)
„Ich kann das nicht, es ekelt mich an.“ (16Jährige)

(4) „Effektives Konzept von Selbstbestimmung und sexueller Integrität“: Dies entspricht einem üblichen Entwicklungsweg. Die Vorstellung von eigenen Rechten ist ausgebildet, ebenso die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, eigene Bedürfnisse zu erkennen, zu formulieren und durchzusetzen. Es kann auch eine Entscheidung bewusst gegen Beziehung und Sexualität oder für einen Aufschub getroffen werden. Bei diesem Typus sehen wir einen geringen Beitrag des Bereichs Sexualität zu einem Re-Viktimisierungsrisiko. Hier steht nicht der Schutz im Vordergrund, sondern es geht darum, in Beziehungen den sexuellen Missbrauch sicher zu kommunizieren („Stigma-Management“).
Konzepte sexueller Integrität können sich mit dem Älterwerden und insbesondere mit neuen Erfahrungen verändern – sie sind keine unveränderlichen Persönlichkeitsaspekte.
Am schwierigsten erscheinen die pädagogische Arbeit und das Herstellen von Vertrauen, wenn Mädchen gegen Regeln verstoßen, die Sexualität in der Einrichtung betreffen. Hier ist eine Entwicklungsbegleitung notwendig, die neue, positivere Erfahrungen und damit ein Herauswachsen aus einem verfestigten Teufelskreis erneuter Opfererfahrungen ermöglicht. Ein Zurückgreifen auf eine Stigmatisierung und Sanktionierung problematischen sexuellen Verhaltens ist dagegen kontraproduktiv. Das Verhalten soll im Zusammenhang der Bewältigung der erfahrenen Gewalt (in allen ihren Formen) verstanden werden.

Der Workshop

Ein zentrales Ergebnis der PRÄVIK-Forschung zu Re-Viktimisierung ist, dass Prävention einer Re-Viktimisierung erstens notwendig ist und zweitens, dass sie zielgruppenspezifisch und lebensweltorientiert auf die unterschiedlichen (!) Entwicklungsbedarfe der in der Obhut der stationären Jugendhilfe lebenden Mädchen zugeschnitten sein muss. Entwickelt wurde ein zweitägiger sexualpädagogischer Workshop für jugendliche Mädchen, die sexualisierte Gewalt erlebt und an der Studie teilgenommen hatten. Dieses Angebot war freiwillig und wurde in Kooperation mit den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe durchgeführt, die auch für einen Hintergrunddienst sorgten, falls es zu Krisen gekommen wäre. Thema war Sexualität. Der Kontext der von den Mädchen erlebten Gewalt wurde immer mitgedacht und es wurde ihnen Raum geboten, davon zu erzählen, wenn sie das wollten. Im Mittelpunkt standen jedoch die Fragen der Mädchen zum Thema Sex und ihre Beziehungen.
Eine Sexualpädagogik, die der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen gerecht werden will – und das gilt vor allem, wenn es um Jugendliche mit einer Vorgeschichte von Gewalt geht – muss Sexualität mit all ihren Facetten und all ihren Ambivalenzen thematisieren. Es geht nicht darum, ausschließlich einen Gefährdungsdiskurs zu führen und vor Sexualität zu warnen, noch darum, Sexualität schönzureden. Jugendliche erleben ihre sexuelle Entwicklung, die damit verbundenen Gefühle, erste sexuelle Kontakte und Beziehungen ja nicht nur gut oder schlecht. Sexuelle Begegnungen lassen sich nicht in solch einfache, dualistische Begrifflichkeit pressen. Im Laufe der Entwicklung machen alle Mädchen und Jungen auch unangenehme Erfahrungen, vieles muss ausprobiert werden, um herauszufinden, was gefällt, was gut tut, was abgelehnt wird, was triggert.
Das Workshopkonzept informiert auch über die Voraussetzungen, die erfüllt sein sollten, um den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht zu werden. Z.B. ist der Umgang mit Sexualität bei den Mädchen sehr unterschiedlich, einige geben sich sehr erfahren und forsch, andere sind sehr verletzlich. In einer größeren Gruppe ist es schwierig, allen gerecht zu werden. Das gilt auch für Diskussionen über Sexualität im Alltag der Wohngruppe. Kollektive, offenherzige „Sexualitätsdiskurse“ müssen die Grenzen derjenigen wahren, die nicht mit Sexualität konfrontiert sein wollen.

Diskussion

Was an diesen Überlegungen, die für Mädchen entwickelt wurden, die sexuellen Missbrauch erfahren haben und Wohngruppen der stationären Jugendhilfe leben, lässt sich verallgemeinern? Sexualität ist generell ein zentrales Thema des Jugendalters. Die Kommunikation darüber ist daher eine wichtige Aufgabe für alle, die mit weiblichen Jugendlichen intensiver arbeiten. Dies gilt insbesondere, wenn, wie in der stationären Jugendhilfe, der institutionelle pädagogische Rahmen zum wichtigen Ort für Gespräche über Sexualität wird, weil die Familie als Rahmen wegfällt.
Vertrauensvolle Kommunikation ist ein zentraler Aspekt von Schutz. Das Ausklammern von Sexualität ist ein Risiko, denn dann wird es Mädchen erschwert, über Probleme und auch über Übergriffe zu sprechen. Betroffene von sexuellem Missbrauch brauchen eine Enttabuisierung von Sexualität, die gleichzeitig informiert und schützt. Dazu gehört unbedingt auch ein gesellschaftlicher Diskurs, der der Stigmatisierung von Gewaltopfern entgegenwirkt (vgl. Kavemann et al. 2016a).
Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt sind zum einen Fakten. Diese Taten werden begangen und verlangen eine entschiedene Haltung gegen Tabuisierung und ein Eintreten für die Belange der Opfer. Zum anderen ist sexualisierte Gewalt auch immer etwas, mit dem Mädchen gedroht wird, wenn sie sich nicht zurückhaltend verhalten, sondern aktiv und offensiv ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse artikulieren und einlösen. Sowohl in dem faktischen Erleben, als auch in der Warnung vor zu befürchtenden sexuellen Übergriffen werden Bilder von männlicher Überlegenheit und weiblicher Unterordnung vermittelt.
In einem speziellen Auswertungsschritt der Studie PRÄVIK wurden die Teilnehmerinnen zu ihren subjektiven Theorien gefragt, mit denen sie sich Re-Viktimisierungen erklären. In den (sehr unterschiedlichen) Erklärungen kamen auch zahlreich klassische Vergewaltigungsmythen vor (Kavemann et al. 2016b), die sexuelle Gewalt normalisieren („Männer sind so“) und Opfer beschuldigen. Dies gilt nicht nur für unsere spezielle Zielgruppe, sondern für Mädchen bzw. für Mädchenarbeit generell: Warnungen vor Gefahren können männliche Vormacht bestätigen. Dem Recht auf Schutz vor sexuellem Missbrauch, auf Unterstützung der Opfer und Anerkennung des Unrechts muss das Recht auf Förderung einer freien, furchtlosen und selbstbestimmten Sexualität zur Seite stehen, das auch das Gewähren von Entwicklungsräumen und die Möglichkeit Fehler zu machen einschließt.

pdf mit Literaturangaben und Fußnoten: Betrifft Mädchen

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