Ein eindrucksvoll aufschlussreicher Beitrag von Kathrin Weßling (Zeit online, 02.08.2018), der aus ihrer Sicht – der Sicht einer Betroffenen – nicht nur mit Vorurteilen und Hürden aufräumt, sondern nochmals den Blick auf Diagnostik und Geschlecht wirft. Meines Erachtens ein hilfreiches Instrument, um den eigenen Blick im nicht nur pädagogischen Alltag (wieder) zu schärfen.
Den ganzen Beitrag findet ihr hier.
„Ich versuche seit zwanzig Minuten, diesen Text anzufangen. Die Wahrheit ist: Ich habe dazwischen zweimal Kaffee geholt, nervös geraucht, fünf Facebook-Nachrichten und dieses Hihihi-total-witzig-erst-mal-liken-Kindervideo an drei Freunde geschickt, während ich aus Versehen die ersten drei Sätze löschte und kurz mit meinem Vater darüber sprach, ob Sonntage wirklich freie Tage sind. Jetzt gerade höre ich den Nachbarn zu, die sich über Autos unterhalten, und vor dem Fenster ist ein Schmetterling und dann kommt eine Nachricht, oh, eine neue Nachricht.
Falls es anstrengend ist, das zu lesen: Es ist viel anstrengender, so zu sein. Meine Aufmerksamkeitsspanne ist nämlich die eines Fünfjährigen auf zwei Liter Cola Light.
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In Deutschland gilt ADHS oft als Kinderkrankheit. Aber bei vierzig bis sechzig Prozent der diagnostizierten Kinder und Jugendlichen bleiben die Symptome auch im Erwachsenenalter – zum Beispiel Probleme mit Aufmerksamkeit, Impulsivität, körperlicher Unruhe.
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Mein Kopf fühlt sich oft an, als sei da ein Lautsprecher installiert worden, der wie die Sprachausgabe beim Smartphone funktioniert. Er liest einfach alles laut vor, was er sieht. Und damit meine ich: absolut alles. Oh, es ist heiß, ich schwitze, schönes Kleid hat die, die Blume da sieht ja eklig aus, wo kommen diese Fliegen her, meine Güte, ich habe Hunger, nein, ich habe Durst, nein, ich habe Kopfweh, nein, doch Hunger, oh, das Buch wollte ich ja noch lesen, erst mal rauchen, ich rauche zu viel, ich kriege bestimmt Krebs, Blasenkrebs oder so etwas, habe ich da schon wieder einen Pickel, wieso guckt der so, was stimmt mit mir denn nicht? So in etwa sieht das in einem Bruchteil einer Sekunde in meinem Kopf aus.
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Der Lautsprecher hat keinen Knopf zum Runterregulieren und macht niemals Pause. Nicht in der Bahn zur Arbeit, nicht in einer Konferenz, nicht beim Wein mit Freunden, nicht im Bett, nicht mal im Schlaf. Ich quälte mich durch Jobs im Großraumbüro und in kleinen lauten Agenturen. Der Lautsprecher quakte und ich heulte heimlich auf dem Klo. Weil ich nicht wusste, was los war, suchte ich, wie Frauen das üblicherweise so machen, den Fehler bei meinem Verhalten. Ich musste einfach effizienter werden, mich nicht so anstellen, mal ein bisschen zusammenreißen, Mäuschen.
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Ich kämpfte jahrelang mit Depressionen, Erschöpfungszuständen und Panikattacken. Und mit zig Diagnosen, deren Behandlung – oft auch mit Psychopharmaka – nie anschlug. Mein Problem war nicht Borderline, keine posttraumatische Belastungsstörung, kein Burn-out. Mein Problem war, dass ich eine Frau mit ADHS bin. Und das ist eine ziemlich schlechte Voraussetzung.
Die meisten Menschen stellen sich, wenn sie das Wort ADHS hören, einen hyperaktiven Jungen vor. Nicht umsonst heißt die Krankheit auch umgangssprachlich Zappelphilipp-Syndrom. Dieses Bild beruht auf klinischen Studien, die in den Siebzigerjahren ausschließlich mit weißen Jungen durchgeführt wurden. Auf viele Frauen treffen die Diagnosekriterien, die anhand dieser Forschung aufgestellt wurden, aber nicht zu. Anders als Männer zeigen Frauen weniger Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität und Hyperaktivität. Ihre Symptome sind oft eher nach innen gerichtet – sie ziehen sich etwa zurück oder entwickeln Ängste und Essstörungen.
Diese Frauen werden dann oft mit Depressionen, Borderline oder Psychosen diagnostiziert. Dass sie ADHS haben, wird bei Tausenden Frauen häufig gar nicht oder viel zu spät erkannt. Oft erst, wenn sie Kinder mit der gleichen Diagnose bekommen. Denn ADHS ist vererbbar – und oft wird erst, wenn das Kind betroffen ist, auch die Mutter getestet.
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Mein damaliger Chef gab sein Bestes, um mir nach der Diagnose ein Umfeld zu schaffen, in dem ich arbeiten konnte. Geklappt hat es am Ende nicht, denn Großraum bleibt Großraum und ADHS bleibt ADHS, auch mit der richtigen Medikation. Geholfen hat am Ende nur, zu kündigen und so zu arbeiten, wie mein Kopf am besten funktioniert: projektbezogen, zeitlich flexibel, selbstständig und selbstbestimmt.
ADHS und Berufsleben zu vereinen ist nicht einfach. Aber ADHSler sind neben ihrer Unaufmerksamkeit durchaus in der Lage zu überragenden Leistungen. Denn sie sind alles andere als dumm – auch, wenn sie bisweilen so erscheinen, weil sie vergesslich, verplant oder schusselig wirken können. Dafür kommen sie durch ihr offenes und flatterhaftes Denken oft auf Lösungen, die andere nicht finden, und sie sind oftmals überdurchschnittlich kreativ und intelligent. Und wenn sie das machen, was ihnen liegt, klappt es auch mit der Konzentration.
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ADHS sollte etwas sein, das im beruflichen Umfeld als Vorteil wahrgenommen wird – nicht als Ausschlusskriterium. So, wie es für Menschen, die sich im Autismusspektrum befinden, ideale Arbeitsplätze gibt, in denen ihre Vorzüge genutzt werden, kann ein guter Arbeitsgeber die Stärken von ADHSlern für sich nutzen. Dafür ist es aber wichtig, dass die Betroffenen sich nicht für die Krankheit schämen. Sondern sie verstehen, ihre Tücken und ihre Geschenke kennenlernen und sie nicht verteufeln, sondern in den Arbeitsalltag integrieren.“