„Die Jungs, die euch heute zuschauen, sind die Männer von Morgen.“

https://www.youtube.com/watch?v=UYaY2Kb_PKI

ein Beitrag von Sebastian Maas/ bento

Wer eine Rasierer-Werbung im Fernsehen sieht, erwartet:
  • Eine Computeranimation von Bartstoppeln, die sauber und effizient gekappt werden.
  • Einen grinsenden Adonis mit Handtuch um die Hüften, der sich beim Blick in den Spiegel zufrieden übers Kinn streicht.
  • Mindestens eine Klinge mehr als die Konkurrenz.
Wer eine Rasiererwerbung im Fernsehen sieht, erwartet eher nicht:
  • Eine kritische Betrachtung von Männlichkeit, die schwelende Diskussionen über Sexismus, Erziehung und #MeToo zusammenfasst, und den Männern um die Ohren haut.

Die Macherinnen und Macher der neuen Werbung von Gillette entschieden sich dennoch für Letzteres. Die Rasierer-Marke, die zum Konzern Procter&Gamble gehört, veröffentlichte am 13. Januar auf YouTube einen etwa zwei Minuten langen Werbeclip namens „We Believe: The Best Men Can Be.“ Darin stellt die Firma direkt zu Beginn einen inzwischen 30 Jahre alten, eigenen Slogan infrage: „Is this the best that men can get“?

Das Video bricht mit den Werbeklischees und zeigt Szenen wie:
  • Einen weinenden Jungen, der zuvor gemobbt wurde, im Arm seiner Mutter.
  • Einen Typen in einer Fernsehshow, der vor lachendem Publikum einer Frau in den Hintern kneift.
  • Einen Firmenchef, der weibliche Mitarbeiterinnen kleinredet.
  • Eine Riege von regungslosen Vätern am Grill, die ihren sich prügelnden Kindern zuschaut und im Chor ruft: „Boys will be boys will be boys will be boys.“
  • Auszüge aus Nachrichtensendungen, die sich mit #MeToo beschäftigen.

Dann dreht das Video die Szenen um und zeigt, wie Männer in solchen Situationen reagieren sollten: die Übergriffigen in die Schranken weisen, die Söhne besser erziehen, Bullys bekämpfen und für Opfer einstehen. Es endet mit der Mahnung, Vorbild zu sein: „Die Jungs, die euch heute zuschauen, sind die Männer von Morgen.“

Sollte Werbung gesellschaftliche Probleme instrumentalisieren? Geht es nicht am Ende immer nur darum, Produkte zu verkaufen? Oder sind Unternehmen heute fast schon verpflichtet, Stellung zu beziehen? In den USA zumindest ist politische Werbung, die sich auf aktuelle Ereignisse bezieht, ein viel diskutiertes Thema.Prominentes Beispiel: Nike engagierte 2018 Colin Kapernick als Werbegesicht, den gefeuerten Star-Quarterback, der durch sein Knien bei der Nationalhymne auf Polizeigewalt aufmerksam machte. (bento)
Im Fall Gillette könnte der Verkaufsplan nach hinten losgegangen sein. Zumindest sind die ersten Reaktionen vieler Männer – von denen sich einige hart getroffen fühlen – nicht gerade positiv. Sie zeigen auch, dass viele nicht verstehen, worum es in dem Clip geht.
  • „Warum ist es falsch, zu grillen?“, fragt etwa YouTube-Nutzer „Silly Stabbin“.
  • „The Solitary Wolf“ fragt: „Was fällt euch ein, Männer – eure Kunden – so herablassend zu behandeln? Ich kaufe mir heute einen Wilkinson.“
  • Der Fox-News-Fan „frankforti“ stellt fest: „21.000 Feministinnen mit unrasierten Beinen haben dem Video ein Like gegeben, 200.000 Männer, die sich rasieren, haben es gehasst. Nicht sehr schlau von euch. Epischer Fail.“

Die Liste geht lange so weiter, offenbar wenig bis gar nicht kritikfähige „Männerrechtler“ versammeln sich unter dem Video und organisieren negative Kommentare. Knapp 60.000 waren es zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels.

Diese Art männlichen Verhaltens wird häufig als toxisch kritisiert. Dass einige Männer nun lautstark auf diese Weise gegen die Gillette-Werbung hetzen, war zu erwarten.

Der Mix aus altertümlichem Männerbild, Selbstanspruch, Erziehung, Medien und den tatsächlichen Rollen in der weitestgehend gleichberechtigten Welt von heute ist für viele Männer ein ungesunder Cocktail. (SPIEGEL ONLINE / Deutschlandfunk)

Ein Cocktail, der sich vor allem in Forschrittsangst und Abwehr all dessen ausdrückt, was die Gesellschaft weiter verändern könnte – in den Augen der Männerrechtler zu ihrem Nachteil. (BpB)

Dabei leiden viele Männer unter dem an sich selbst gestellten Anspruch, ein „echter Mann“ zu sein. „Das traditionelle Männerbild ist ein ererbtes Leiden“, erklärt der Journalist Jack Urwin in seinem Buch „Boys don’t cry“. Und so kommt es, nicht nur, aber auch wegen dieser toxischen Männlichkeit, dass Männer traurige Anführer der Suizidstatistiken sind. Sie sterben früher, leben ungesünder und werden öfter Opfer und Täter bei Gewalttaten. Das Patriarchat frisst seine Söhne.

Im Internet sorgt diese fortschritts- und gleichstellungsfeindliche Einstellung für ein Grundrauschen aus Sexismus, Frauenhass und Trollkommentaren. Schlimmer wird es nur noch, wenn Männer zur Waffe greifen: So sind es immer noch in fast 100 Prozent der Fälle wütende, enttäuschte und mit ihrer Umwelt unzufriedene Männer, die Amok laufen. Toronto, Santa Barbara oder Bridgeville sind nur einige, traurige Beispiele, in denen die Täter sogar aus Frauenfeindlichkeit oder verletzter Eitelkeit handelten. (SPIEGEL ONLINE)Die American Psychological Association, der nach eigenen Angaben weltgrößte Zusammenschluss von Fachleuten aus der Psychologie, hat Ende 2018 die „toxische Männlichkeit“ als Ursache vieler Probleme in die Handreichung zur Behandlung von Männern und Jungen mit aufgenommen. (APA) Der Aufruf „Passt aufeinander auf, geht offener mit euren Gefühlen um, steht für Frauen ein und erzieht eure Kinder besser“, welcher in der letztendlich profit-orientierten Rasierer-Werbung (!) durchschwingt, könnte – sofern er angenommen und gelebt würde – einige dieser Probleme lindern.Die Kommentatoren unter dem Clip im Netz sehen es natürlich anders. Doch so ist es mit der toxischen Männlichkeit: Wäre sie durch ein paar kritische Werbeclips zu heilen, wäre sie nicht lebensbedrohlich. Für Männer und Frauen. Und vielleicht auch für Firmen, die Rasierer verkaufen. Aber das wird sich erst in einigen Wochen zeigen.“

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