Und was wird aus den Mädchen? / GEW 05/17

Schulen für Erziehungshilfe

Und was wird aus den Mädchen?

Beziehung als Basis: Veränderte Wege für die Arbeit mit Mädchen in den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt im emotionalen und sozialen Bereich

Eigentlich ist die Koedukation an den Schulen das zeitgemäße Unterrichtsmodell. Aber gilt das, was für alle gilt, auch für Schulen für Erziehungshilfe, wie man die SBBZ mit dem Förderschwerpunkt im emotionalen und sozialen Bereich früher genannt hat? Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die Geschlechtertrennung für benachteiligte Mädchen an diesen Schulen die bessere pädagogische Basis ist, weil dadurch erst die sprichwörtlich „Not-wenigen“ Entwicklungsbedingungen geschaffen werden können, die im gemischtgeschlechtlichen Setting verunmöglicht werden. Konkret bedeutet das, dass sowohl benachteiligte Schülerinnen als auch Schüler, die an diesen Schulen unterrichtet werden, sehr häufig in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen. Beide, sowohl benachteiligte Mädchen als auch Jungs, sind häufig massiven familiären, emotionalen, sozialen, gesundheitlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Belastungen ausgesetzt. Doch diese haben unterschiedliche „Gesichter“. Beispielsweise sind beide Geschlechter Gewalterfahrungen ausgesetzt. Während Jungs jedoch häufig Kampftraumata erfahren, sind Mädchen z.B. in besonderer Weise einem „Beziehungsverrat“ ausgesetzt, der mit sexualisierter Gewalt einhergeht. Hinzu kommt: Es gibt keine Schulart in der Jungs häufiger vertreten sind als an „Schulen für Erziehungshilfe“. Nicht selten gibt es nur ein einziges Mädchen im Klassenverband. Das potenziert die Problemlagen, denn Mädchen mit sexualisierten Gewalterfahrungen sind dann wieder stark bzw. ungeschützt dem (begehrlichen) Blick der männlichen Klassenkameraden ausgesetzt, auch weil stärkende und solidarische Freundschaften mit anderen Mädchen in dieser Konstellation nicht einmal potentiell möglich sind Dieser Kontext hemmt und erschwert ihre (Identitäts)Entwicklung. In separaten Mädchenklassen dagegen, so zeigt es sich, erleben sie einen Schutz- und zugleich Freiraum, in dem bedeutsame (Gegen)Erfahrungen überhaupt erst möglich werden. Dabei sind veränderte Beziehungserfahrungen von höchster Bedeutung. Denn Verhaltensauffälligkeiten entwickeln sich überwiegend in dysfunktionalen Beziehungen und können nur durch gelingende Beziehungserfahrungen modelliert und verändert werden.

Schon vor mehr als 20 Jahren haben Lehrerinnen der Albert-Schweitzer-Schule dieses Phänomen erkannt und Pionierarbeit geleistet: Der ursprünglich nachteilige Charakter des Mischungsverhältnisses wurde im Sinne der Mädchen verändert. Erst kleinschrittig, prozessorientert, dann in Form von Mädchenklassen. Die Mädchenklassenlehrerinnen beschäftigten sich mit den Biographien der Mädchen und erkannten, dass für diese Beziehungen zu anderen Mädchen und auch zu Lehrerinnen, für eine gesunde Entwicklung äußerst bedeutsam sind. Denn darin können die Mädchen eine Beziehungs- und Konfliktkultur erproben, die – anders als in gegengeschlechtlichen Beziehungen – nicht per se „potentiell sexuell aufgeladen“ ist. Das ist entscheidend, wenn es darum geht, sexualisierte Gewalt und den damit einhergehenden Bindungsverrat in „sicheren Entwicklungsräumen“ gelingend zu bearbeiten. Ein einzelnes Mädchen unter vielen Jungs hat diese Chance nicht. Aus dieser Erkenntnis heraus hat die Stuttgarter Albert-Schweitzer-Schule in den 90er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Margarethenheim in einer Außenstelle zunächst eigene Klassen für Mädchen ab dem Pubertätsalter (Klasse 7) gegründet.

Doch bald zeigte es sich, dass die sehr ungleichgewichtige Geschlechtermischung in den Schulen für Erziehungshilfe auch schon für Mädchen jüngeren Alters nachteilig ist. Aus dem Wunsch, alle Schülerinnen adäquat zu fördern, rief eine Lehrerin eine Mädchen-AG ins Leben, zunächst einmal pro Woche, um den Mädchen den beschriebenen Schutz- und Schonraum nach der Unterrichtszeit anzubieten. Als die Mädchen dort viele Wünsche äußerten wie: „Wir wollen einmal ohne Jungs schwimmen gehen.“, oder „Kann ich, ohne dass Jungs zuschauen, Fahrradfahren üben?“ hat die Schule bald darauf eigenständige Angebote für Mädchen von Klasse 1 bis Klasse 10 geschaffen. Gleichzeitig hat sich die Stammschule mit einer konzeptionellen Neuausrichtung befasst.

Lehrerinnen aus verschiedenen anderen E-Schulen in Baden-Württemberg begrüßten diese Bewegung und versuchten, an ihren Schulen ebenfalls Mädchenklassen zu bilden. Aber nicht in jedem Kollegium und nicht bei allen Schulleitern stieß dieses Ansinnen auf offene Ohren. Die Herausforderung, Mädchen an SBBZs mit dem Förderschwerpunkt im emotionalen und sozialen Bereich nicht nur zu unterrichten, sondern ihnen dabei einen Schutz- und Entwicklungsraum zu ermöglichen, waren sehr hoch und erforderten zusätzliche Kompetenzen und ein besonderes Bewusstsein. Für das neue Mädchenangebot waren nicht nur individualisierte, fachdidaktische Kenntnisse notwendig, sondern vor allem auch ein gendersensibler Blick des Kollegiums und der Schulleitungen. Denn das Etablieren spezieller Mädchenangebote machte zwangsläufig aus unverhältnismäßig gemischten E-Schulklassen „unfreiwillige, reine Jungenklassen“. Dabei ist jedoch entscheidend: Mädchenarbeit an E-Schulen legt die spezifischen Problemlagen benachteiligter Mädchen und Jungs zwar offen, will aber definitiv nicht die einen auf Kosten der anderen unterstützen. Im Gegenteil: Die Reflexion und Bearbeitung der jeweiligen genderspezifischen Belastungen und damit einhergehenden „geschlechtertypischen“ Bewältigungsstrategien ist eine besondere Chance – für benachteiligte Mädchen und Jungs, sowie für deren Lehrerinnen und Lehrern! Geholfen hat bei der konzeptuellen Weiterentwicklung bzw. Verbreitung von Mädchenklassen an weiteren Schulstellen in Baden-Württemberg ein kollegiales Netz, das Mädchenklassenlehrerinnen gebildet haben. Sie haben sich darin gegenseitig zugehört, hinterfragt, getragen und unterstützt. In regelmäßig stattfindenden Treffen, dem „Arbeitskreis Mädchen“ haben sie ihre Erfahrungen ausgetauscht und aktuelle Entwicklungen und zugleich ihre pädagogische Arbeit reflektiert, mit dem Ziel, ihre Unterrichtskonzepte immer weiter zu verbessern.

Wissenschaftlich begleitet und fachlich unterstützt wurden und werden die „Fachfrauen“ dabei seit knapp zwei Jahrzehnten von Mag. Dr. Martina Hoanzl (PH Ludwigsburg). In regelmäßig stattfinden „Foren“, in denen erfahrene Mädchenklassenlehrerinnen zusammen mit Studierenden der PH Ludwigsburg in einen intensiven Diskurs zu genderspezifischen Fragestellungen eintauchen und zugleich aktuelle Entwicklungen der Mädchenarbeit dokumentieren und theoriegeleitet reflektieren, gelingt die Verzahnung von Lehrerausbildung, Lehrerfortbildung und zugleich Netzwerkarbeit in nachhaltiger und innovativer Weise. Die Lehrerinnen nahmen nicht nur interessante Anregungen und wichtige Informationen aus diesen Veranstaltungen mit, sondern sie entwickelten dank der “Forenarbeit“ auch viele konzeptionelle Bausteine für die ganz konkrete praktische Mädchenarbeit. Diese fußen auf der Erkenntnis, dass Mädchenarbeit zu allererst Beziehungsarbeit sein muss.

Im März 2017 gestaltete Frau Hoanzl von der PH Ludwigsburg daher gemeinsam mit den Mädchenklassenlehrerinnen der Albert-Schweitzer-Schule und der Dietrich-Bonhoeffer Schule (beide Schulen gehören zu der Stiftung Jugendhilfe-aktiv) einen Fachtag zur pädagogischen Arbeit mit Mädchen an Schulen für Erziehungshilfe. Das Thema lautete: „Die Kunst, in Beziehung zu sein…“. Das Interesse an diesem Fachtag war sehr groß, aus mehreren Bundesländern kamen dazu Fachleute ins Esslinger Theodor Rothschild-Haus.

Eine der Kernaussagen des zweitägigen Fachtags war, dass Lernprozesse Beziehungsprozesse sind, die auf genderspezifischen Beziehungserfahrungen basieren. Menschen lernen nach Hoanzl immer dann, wenn sie emotional in Verbindung sind – erstens mit anderen bedeutsamen Menschen, z.B. dem Lehrer bzw. der Lehrerin, zweitens mit der dinglichen Welt, die sie umgibt, und drittens mit sich selbst. Dabei wurde der dritte Aspekt – die Selbstbeziehung – besonders intensiv reflektiert. Die These des „falschen Selbst“, die von Winnicott entwickelt und aktuell von Fonagy weiterentwickelt wurde, konnte in diesem Kontext erhellende Einblicke ermöglichen. Denn die Problemlagen der „Schwierigsten der Schwierigen“ verdichten sich nicht nur an allen E-Schulen des Landes, sondern ihre Zahl nimmt auch merklich zu. Die Theorie vom „Falschen Selbst“ kann dafür eine Verstehenshilfe sein. Denn: Die eigene Identität, das eigene Selbst entwickelt sich nicht im „luftleeren Raum“. Vielmehr wird das Selbstverhältnis dadurch bestimmt, wie das Kind von seinen bedeutsamen Bezugspersonen gesehen wird und wie es sich dadurch selbst zu sehen lernt. Doch was, wenn nicht die „echten Entwicklungsimpulse“ des Kindes von seinem Gegenüber erkannt, anerkannt und beantwortet werden? Was, wenn die Hinwendung zum Kind immer nur dann möglich wird, wenn das Kind so ist, wie es die Bezugsperson (auf Grund eigener Belastungen) haben will? Das Kind lernt sich zu „verbiegen“, weil es nur auf diese Weise die „Not-wendige“ emotionale Verbindung zu Bezugspersonen herstellen kann, von denen es abhängig ist und entfremdet sich dabei selbst. Das Ergebnis kann ein „falsches Selbst“ sein, das nicht in Kontakt mit den ureigensten Bedürfnissen und Erlebensweisen des Kindes selbst steht, sondern das danach fragt: „Wie willst Du mich haben?“ Fatal, wenn es dabei nicht an eine förderliche Umwelt gerät. Aber auch hier gilt: Diese Entwicklungen betreffen Jungen wie Mädchen an E-Schulen. Das spezifische der „schwierigsten der schwierigen Mädchen“ liegt jedoch darin, dass sie andere Bewältigungsstrategien entwickeln als Jungs, die z.T. in extrem sexualisiertem und z.T. in extrem selbstverleugnenden Verhalten gipfeln. Wer keinen Zugang zum eigenen, tiefen Erleben hat, muss erst über krasse Körpererfahrungen Empfindungen hervorrufen. Das tun benachteiligte Mädchen auf andere Weise als Jungs. Nur wer die spezifischen Problemlagen erkennt kann auch echte Passungen in der Bearbeitung und Bewältigung dieser Belastungen ermöglichen. Martina Hoanzl plädierte dafür, die „Schule für Erziehungshilfe“ im Kern auch als „Schule für Beziehungshilfe“ -im Sinne des oben genannten Dreischrittes vor einem gendersensiblen Hintergrund – zu definieren,

Dies können Lehrerinnen an Schulen für Erziehungshilfe für Mädchen in besonderer Weise in Mädchenklassen gewährleisten, darin waren sich die Teilnehmerinnen des Fachtags einig. Und auch darin, dass die PraktikerInnen mehr politische Rückendeckung erhalten müssen, damit sie die förderlichen, mädchenspezifischen Schulangebote ausweiten und verbessern können. Mädchenklassen bieten die besondere Chance, in einem geschlechtssensiblen Umfeld den Blick der Mädchen neu auf deren eigene Entwicklung zu lenken. Sie leisteten so einen wichtigen Beitrag, ihnen in Entwicklungskrisen eine Antwort auf die Frage „Was will ich wirklich und was wird aus mir?“ zu geben.

 

Maria Theresia Burkert,

Susanne Eisenmann,

Beate Rödl (alle Albert-Schweitzer-Schule, Stuttgart),

Carolin Vollmer (Dietrich Bonhoeffer-Schule, Stuttgart)

 

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