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„Paula, Dalia und Lea, 10. Klasse, erleben, dass die Honorarkraft im Computerkurs übergriffig wird. Der Mann fasst ihnen immer wieder in den Schritt und an den Po.
Layla, 7. Klasse, verabredet sich mit Freunden, die sie seit der Grundschule kennt, zu einer Party. Die Jungs verabreichen ihr K.O-Tropfen und vergewaltigen sie. Zwei Tage später wird ihr von einer Freundin erzählt: „Ich habe ein Video gesehen, das zeigt, wie du heißen Sex hattest.“
Tim, 9. Klasse, wünscht sich eine Freundin. Mitschüler legen einen falschen Facebook-Account an und tun so, als ob dieser einem Mädchen gehöre. So beginnt ein erotischer Chat, in dem Tim aufgefordert wird: ‚Schick mir ein Video davon, wie du dich selbst befriedigst.‘ Tim geht darauf ein. Danach macht das Video auf dem Schulhof die Runde.
Lukas, 8. Klasse, geht aufs Schulklo. Als er die Hose herunterlässt, fotografiert ihn ein Junge über die Trennwand – und schickt das Bild an andere Schüler, die es ihrerseits weiterposten. Fünftklässler sprechen Lukas auf dem Schulhof darauf an und verspotten ihn: „Du hast ja einen kleinen Penis!“
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Marie, 6. Klasse, wird von zwei Mitschülerinnen per WhatsApp sexistisch beschimpft. Sie drohen auch an, ältere Jugendliche zu „organisieren“, die sie vergewaltigen sollen.
Karla, 5. Klasse, wird von mehreren Mitschülern zu Boden geworfen. Einige Jungen halten sie fest, einer legt sich auf das Mädchen und macht Koitus-Bewegungen.
Karla, Lukas, Layla und die anderen Jugendlichen heißen in Wirklichkeit anders. Aber ihre Erlebnisse sind echt. Mädchen und Jungen haben diese Erfahrungen gemacht, wie Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen für Opfer von sexuellem Missbrauch wie „Wildwasser“ in Berlin, „Zartbitter“ in Köln und „Schattenriss“ in Bremen berichten.
Die Beispiele zeigen: Sexualisierte Gewalt an Schulen kann verschiedenste Formen annehmen. Sie ist zudem weiter verbreitet als mancher denkt – oder wahrhaben will.
Jeder vierte Schüler hat sexuelle Gewalt erlebt
Rund ein Viertel der Schüler im Alter von etwa 15 Jahren hat schon mindestens einmal körperliche sexualisierte Gewalt erlebt, zeigt die hessische SPEAK-Studie von 2017. Jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge habe mindestens einmal entsprechende Erfahrungen gemacht, sei betatscht, gegen den Willen geküsst oder am Geschlechtsteil angefasst worden.
Für die Untersuchung wurden mehr als 2700 Schüler der 9. und 10. Klassen in Hessen zu sexueller Gewalt befragt. Etwas größer war die Stichprobe bei einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit rund 4300 Neuntklässlern von 128 Schulen in vier Bundesländern.
Das Ergebnis: 16 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Jungen berichteten von mindestens einer Gewalterfahrung mit Körperkontakt. Der Begriff schloss hier auch ein, dass Jugendliche sexuell bedrängt oder zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden.
Beide Studien bezogen sich nicht nur auf Vorfälle in der Schule. Sexuelle Gewalt durch Schulpersonal komme vor, werde aber selten genannt, heißt es in der DJI-Studie. Auffällig: Als Täter seien größtenteils andere Jugendliche genannt worden. Das ist auch der zentrale Befund der SPEAK-Studie: „Das Hauptrisiko für sexualisierte Gewalt sind Gleichaltrige“, sagt Mitautorin Sabine Maschke, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Gießen.
Opfer wechselt die Schule – nicht der Täter
Welche tiefe Verzweiflung hinter solchen Statistiken steckt, erlebt Anke Fürste täglich bei ihrer Arbeit in der Bremer Beratungsstelle „Schattenriss e.V.“, einer Anlaufstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs. „Ich höre oft: ‚Es ist nichts mehr so, wie es vorher war.'“ Betroffene ertragen es oft nicht einmal mehr, zu essen oder zu trinken. Viele würden sich völlig zurückziehen, von Familie und Freunden isolieren. Sie hätten starke Schlafstörungen und große Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, weil die Gedanken ständig um das Erlebte kreisten. Den Tätern täglich wieder in der Schule begegnen zu müssen, sei besonders schlimm. „Das triggert immer wieder die Erinnerung an das Erlebte“, sagt Fürste.
Zusätzlich immens belastend: Wer Betroffene sexualisierter Gewalt geworden ist, hat nach der Tat oft einiges durch Mitschüler zu erleiden. Betroffene Mädchen würden etwa als Hure beschimpft, oftmals auch weiterhin sexuell belästigt, sagt Ina Sommerfeld von der Berliner Beratungsstelle Wildwasser e.V.
Leider würden nicht alle Lehrkräfte konsequent einschreiten, sagt die Psychologin. Es ist nach ihrer Erfahrung auch keineswegs immer so, dass übergriffige Jugendliche der Schule verwiesen würden oder zumindest die Klasse verlassen müssten: „Fast immer wechseln Betroffene die Schule.“ Oder gehen gar nicht mehr zum Unterricht. Fürste sagt: „Sexuelle Gewalt ist durchaus ein Grund für Schulvermeidung. Das wird noch zu selten gesehen.“
Einige Lehrkräfte sind überfordert
Neu ist das alles nicht. Sexuelle Gewalt an Schulen gab es in Deutschland schon immer. Jahrelang war das allerdings für viele Schulleiter und Lehrkräfte ein Tabu-Thema, auch aus der Sorge, dass der Ruf der eigenen Schule leiden könnte. Eltern könnten denken: Wenn Missbrauch thematisiert wird, muss dort Schlimmes vorgefallen sein.
An einigen Schulen gibt es diese Sorge bis heute. Weiterbildungen oder Leitlinien, wie bei sexualisierter Gewalt vorzugehen sei? Fehlanzeige. Viele Lehrkräfte seien deshalb überfordert, sagt Fürste. „Es geht hier aber nicht um Lehrerkritik. Oft fehlt es schlicht an Kapazitäten, auch an Sozialarbeitern oder Schulpsychologen.“
Bisher gibt es in Deutschland noch keine bundesweite Verpflichtung für Schulen, Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch zu entwickeln. Aber immerhin: Es tut sich einiges.
Bundesweite Initiative gegen sexuelle Gewalt
Erst am Mittwoch hat die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) dem Thema mit einem bemerkenswerten,sehr persönlichen Bekenntnis Aufmerksamkeit verschafft. Vier Jungen hätten sie zu ihrer Schulzeit gepackt, in einen Keller gezogen und begrapscht, sagte Scherres zum Start der bundesweiten Initiative „Schulen gegen sexuelle Gewalt“.
Deren Ziel: Mehr als 30.000 Schulen in Deutschland sollen Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt entwickeln und dabei Hilfestellung bekommen. Es geht um Fortbildungen, die Entwicklung eines Verhaltenskodex oder Notfallplans. Initiator ist der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ( UBSKM ), Johannes-Wilhelm Rörig.
Sexueller Missbrauch finde vor allem in der Familie und im familiären Umfeld statt, sagt Rörig, betont aber: „Allerdings erleiden viele Kinder auch sexuelle Gewalt durch Gleichaltrige, was durch die digitalen Medien eine neue Dimension erlangt, die auch die Schulen erreicht hat.“ Lehrkräfte dürften sich nicht scheuen, das Thema anzusprechen.
Dass dies nachweisbar eine positive Wirkung hat, zeigt sich dort, wo Schulen bereits aktiv geworden sind: „Eine präventive Aufklärungsarbeit an Schulen führt zu einer größeren Bereitschaft von Jugendlichen, sich im Falle von sexuellen Übergriffen an Dritte zu wenden, um sich Hilfe zu holen“, heißt es in einem Kurzbericht von 2017 zur DJI-Studie.
Frühzeitig Grenzen setzen
Damit ist nicht gesagt, dass Schulen oder gar einzelne Lehrkräfte sexuellen Missbrauch an Schulen grundsätzlich verhindern könnten. Aber: Lehrkräfte können durchaus das Klassenklima so beeinflussen, dass sexualisierte Gewalt frühzeitig abgewehrt oder als normal und erlaubt gilt, das ist die Erfahrung von Ursula Enders, Gründerin der Kölner Beratungsstelle „Zartbitter e.V.“
„Wenn Lehrkräfte sexistische Witze machen oder Schüler stark sexualisieren, etwa mit Sprüchen wie ‚Du bist ja ein heißes Mädchen, du wirst den Männern mal kräftig den Kopf verdrehen‘, nehmen ebenso Übergriffe durch Jugendliche zu“, sagt Enders. Sexualisierte Gewalt komme außerdem häufiger vor, wenn Lehrkräfte weniger schwere Vorfälle wie sexistische Beleidigungen abtun, etwa mit dem Satz: ‚Klärt das mal unter euch‘.
„Wenn Schülern keine Grenzen gesetzt werden, wenn keine verbindliche Regeln eines respektvollen Umgangs vorgegeben und vorgelebt werden, dann überschreiten einige die Grenzen“ , sagt Enders. Es gehe bei sexualisierter Gewalt unter Gleichaltrigen fast nie um sexuelle Befriedigung – sondern um Machtgehabe. Deshalb müssten Lehrkräfte auch schon bei üblen Beleidigungen konsequent für die Betroffenen Stellung beziehen.
„Sexualisierte Beschimpfungs-Kultur“
Offenbar wird das nicht überall gemacht – oder Lehrkräfte scheitern: Von verbaler sexueller Belästigung, also etwa sexistische Witze über den Körper, das Verbreiten übler Gerüchte oder das Zeigen pornografischer Inhalte, berichten knapp zwei Drittel der befragten Jugendlichen in der DJI-Studie. Auch in der SPEAK-Studie kam heraus: Eine „sexualisierte Beschimpfungs-Kultur“ ist unter Jugendlichen weit verbreitet.
Das allerdings enthemmt möglicherweise Schüler, die zu Übergriffen neigen – und es gibt auch einen bedenklichen Effekt für potenzielle Opfer: „Wir haben neulich mit Achtklässlerinnen über sexistische Witze und Beschimpfungen gesprochen“, sagt Psychologin Hannah Gestrich von Wildwasser e.V. Die Mädchen hätten sich kaum empört: „Vielmehr fiel immer wieder ein für uns erschreckender Satz: ‚Daran haben wir uns schon gewöhnt‘.“